Sophie und Rolf
Erste Geschichte
Sophie und Rolf sind seit vier Jahren ein Paar. Die gemeinsame Zeit ist geprägt von Höhen und Tiefen, von Aufs und Abs – so wie das bei Paarbeziehungen halt ist. Jetzt sitzen die beiden nach einem fordernden Arbeitstag zu Hause auf dem Sofa. Es ist der erste Abend seit langem, den sie gemeinsam verbringen. Sie schweigen.
Sophie ist in Gedanken noch bei der Arbeit. Ihre neue Kollegin hat sie heute ganz schön genervt. Die dumme Gans.
Während seine Freundin innerlich noch in der Vergangenheit hängt, ist Rolf in seinen Gedanken in der Gegenwart. Da ist dieses Champions League-Spiel, das vor kurzem begonnen hat. Was, wenn er jetzt einfach den Fernseher einschalten und das Spiel verfolgen würde? Nein, das durfte er sich nicht erlauben. Sophie würde das nicht verstehen. Heute liegt Fussball nicht drin.
Zweite Geschichte
Sophie und Rolf sind seit vier Jahren ein Paar. Die gemeinsame Zeit ist geprägt von Höhen und Tiefen, von Aufs und Abs – so wie das bei Paarbeziehungen halt ist. Jetzt sitzen die beiden nach einem fordernden Arbeitstag zu Hause auf dem Sofa. Es ist der erste Abend seit langem, den sie gemeinsam verbringen. Sie schweigen.
Sophie wartet, bis Rolf die Initiative ergreift. In letzter Zeit war es meistens sie gewesen, die ein Gespräch begonnen hat. Jetzt soll er mal!
Rolf erlebt gerade einen beklemmenden Gefühlscocktail. Er hat sich auf diesen Abend mit Sophie gefreut. Doch worüber könnten sie nun reden? Über seine Arbeit will er nicht sprechen. Schliesslich ist Feierabend. Fussball interessiert sie nicht. Über den nächsten Urlaub? Bei diesem Thema hat es letztes Mal ziemlichen Zoff gegeben. Also besser Hände weg. Normalerweise hat Sophie immer etwas zu erzählen. Sie ist gut darin, auf lockere Art und Weise ein Gespräch zu beginnen. Rolf schätzt das und bewundert sie dafür. Doch heute sagt sie nichts. Was ist bloss los?
Dritte Geschichte
Sophie und Rolf sind seit vier Jahren ein Paar. Die gemeinsame Zeit ist geprägt von Höhen und Tiefen, von Aufs und Abs – so wie das bei Paarbeziehungen halt ist. Jetzt sitzen die beiden nach einem fordernden Arbeitstag zu Hause auf dem Sofa. Es ist der erste Abend seit langem, den sie gemeinsam verbringen. Sie schweigen.
Beide geniessen das Beisammensein. Sie spüren, dass jetzt nicht die Zeit für Worte ist. Je länger die Zeit des Schweigens dauert, umso intimer wird sie. Sie wissen voneinander, dass sie sich so akzeptieren, wie sie sind. Sie brauchen sich nichts vorzumachen. Durch das Schweigen wird die Verbundenheit einmal mehr erleb- und spürbar.
Das Fazit
Drei Geschichten. Die selben Protagonisten, die gleiche Situation. Und doch so unterschiedlich. Was ich damit aussagen will:
Schweigen ist nicht gleich Schweigen
Und somit ist auch schon das Fazit dieses Blogartikels gezogen. Und das, bevor der Artikel so richtig begonnen hat. Wenn dich diese Beispiele anregen, über verschiedene Arten des Schweigens nachzudenken, darfst du gerne hier stoppen. Du brauchst nicht weiterzulesen.
Du liest weiter? Schön, dann gehe ich davon aus, dass du erfahren möchtest, was ich darüber denke. Und genau darum geht es in der Folge. Du findest keine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema Schweigen, sondern eine Sammlung einiger meiner Gedanken dazu.
Die Auslöser
Es gibt zwei Auslöser, die mich angeregt haben, mir Gedanken zum Thema Schweigen zu machen:
- Mein Blogbeitrag Bei diesen Fahrten beschlich mich immer ein beklemmendes Gefühl
- Die Podcast-Episode Mit Stephen Karpman von null auf hundert, die Christin Nierlich und ich kürzlich veröffentlicht haben
Sowohl im Blogbeitrag als auch in der Podcast-Episode ist Schweigen ein Thema. Und sowohl auf den Blogbeitrag als auch auf die Podcast-Episode gab es einige Reaktionen. Viele davon bezogen sich direkt oder indirekt auf das Thema Schweigen.
Ich möchte hier hauptsächlich noch einmal die Skala der Vertrautheit von Stephen Karpman aufgreifen, die wir im Podcast besprochen haben.
Mit diesem Konzept schlägt Karpman vor, aufgrund des Inhalts der Kommunikation auf den Grad der Vertrautheit oder Intimität zu schliessen. Ans untere Ende der Skala, was einem Wert von 0% – 20% Intimität entspricht, hat Karpman „Schweigen“ gesetzt. Mit anderen Worten: schweigen Gesprächspartner, dann haben sie sich nichts zu sagen und es ist bei den Beteiligten wenig bis keine Fähigkeit vorhanden, mit anderen offen und spielfrei in Kontakt zu sein (= Intimität im Sinne der Transaktionsanalyse).
Stimmt das?
Einige Hörerinnen und Hörer des Podcasts haben reagiert.
Wieso ist Schweigen / Stille Isolation? Ich erlebe im Schweigen sehr oft tiefe Intimität.
Kommentar auf Facebook
Dieser Kommentar auf Facebook steht stellvertretend für andere Rückmeldungen. Irrt sich Stephen Karpman, wenn er Schweigen als Ausdruck mangelnder Intimität darstellt?
Karpman und das Schweigen
Vielleicht ist der Begriff Schweigen (Original: Silence) etwas unglücklich gewählt. Die folgende Aussage zeigt, dass Karpman eine ganz besondere Art von Schweigen meint, wenn er dafür das Prädikat „Isolation“ verwendet.
… wenn die Gesprächspartner sich peinlich berührt fühlen und nicht länger wissen, was sie sagen sollen.
Stephen Karpman: Ein Leben ohne Spiele (2016), S. 205
Es geht also um diese peinliche Art von Schweigen, die mit einem unangenehmen Gefühl einhergeht, wenn Karpman Schweigen dem unteren Ende der Skala zuordnet.
Später schreibt Karpman zur Wir-Ebene, die sich am entgegengesetzten Ende der Skala befindet (80% – 100% Intimität):
… indem sie zum Beispiel Momente von Ruhe und Schweigen miteinander teilen können …
Stephen Karpman: Ein Leben ohne Spiele (2016), S. 207
Karpman scheint also auch ein Schweigen zu kennen, das von Intimität geprägt ist. Das ist doch schon mal beruhigend…
Die Arten des Schweigens
Es sind also nicht nur die drei Geschichten mit Sophie und Rolf, die andeuten, dass es unterschiedliche Formen des Schweigens gibt. Auch Karpman nennt in seinem Buch mindestens zwei.
Wenn ich jetzt in diesem letzten Teil verschiedene Arten des Schweigens beschreibe, geht es immer um Situationen, in welchen zwei oder mehr Personen Zeit miteinander verbringen.
Drei Arten habe ich bereits im Blogartikel zum Thema Zeitstrukturierung im Zusammenhang mit Rückzug kurz erwähnt.
1. Beklemmendes Schweigen
Beim beklemmenden Schweigen ist die betreffende Person ganz mit sich selbst beschäftigt. Auf Karpmans Skala würde sich diese Art ganz nahe bei den 0% Vertrautheit befinden.
Die Energie ist darauf gerichtet, wie das Schweigen unterbrochen werden könnte. Dabei setzt man sich immer mehr selbst unter Druck. Dabei wächst die Beklemmung und gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass einem etwas einfällt, das man sagen könnte. Im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen zum Thema Rückzug, spricht Eric Berne von angepassten autistischen Transaktionen.
2. Brodelndes Schweigen
Im Gegensatz zum beklemmenden Schweigen ist die Energie bei dieser Art schon etwas mehr auf das Gegenüber gerichtet. Die unangepassten autistischen Transaktionen, wie Berne sie nennt, sind geprägt von Verärgerung über die andere Person. Der Ärger wird jedoch nicht laut ausgedrückt, sondern von inneren Stimmen breitgeschlagen: „Diesem blöden Ochsen würde ich am liebsten den Hals umdrehen!“ Oder: „Sie ist Schuld, wegen ihr kann ich jetzt das Fussballspiel nicht schauen.“
3. Freies Schweigen
Beim freien Schweigen verabschiedet man sich in eine Traum- und Fantasiewelt. Die Gedanken wandern von einem Thema zum anderen. Von Erinnerungen an vergangene Erlebnisse bis zu Wünschen, was man irgendwann machen will oder wird, ist vieles möglich. Während man sich bei den ersten beiden Arten unwohl fühlt, geht es einem beim freien Schweigen gut.
4. Intimes Schweigen
Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es nicht um sexuelle Intimität geht, sondern um eine nahe Vertrautheit, die Fähigkeit, anderen offen und echt zu begegnen und in Kontakt zu sein.
Ein schönes Beispiel liegt zwar schon einige Jahre zurück, ist mir jedoch noch in sehr guter Erinnerung. Eine Feier. Es herrschte ziemlicher Trubel: Musik, Tanz, Gespräche. Ich sass irgendwo am Rand an einem Tisch. Immer wieder mal kam jemand, setzte sich neben mich und wir wechselten ein paar Worte. Dann geschah es. Ein Mann tat es den anderen gleich. Wir kennen uns nicht sehr gut, doch durch die bisherigen Begegnungen ist eine schöne Art von Vertrautheit gewachsen. Im Gegensatz zu anderen blieb er nach dem kurzen Wortwechsel sitzen. Wir sassen da und schwiegen. Irgendwann sagte er:
„Es ist so schön, mit dir kann ich einfach dasitzen und schweigen.“
Damit drückte er aus, was auch ich erlebte. Auch ich konnte mit ihm einfach dasitzen und schweigen. Dass war intimes Schweigen – angenehm und wohltuend.
Noch ein Fazit
Das Fazit, dass Schweigen nicht gleich Schweigen ist, habe ich oben bereits gezogen. Das Fazit dieses Fazits:
Falls es dich stört, wenn jemand schweigt, dann versuche zu ergründen, um welche Art des Schweigens es sich handelt.
Manchmal hilft es, nachzufragen. Zum Beispiel: „Was bedeutet dein Schweigen?“
Und noch etwas:
Es muss nicht immer geredet werden. Erlaube dir freies und intimes Schweigen!
Schöne inspirierende Gedanken. Danke 🙂
Herzlichen Dank, lieber Darijo