Ichigo-ichie im Wald

Ichi-go ichi-e im Wald

29. Juli 2025

Über das Glück, im richtigen Moment präsent zu sein

Der Wald war still und weich. Wie oft war ich morgens unterwegs, um im Tag anzukommen, mich zu sammeln, durchzuatmen. Im Ohr das Hörbuch Ichigo-ichie von Francesc Miralles und Héctor García – eine Einladung, die japanische Lebenskunst zu entdecken, die uns lehrt, den gegenwärtigen Augenblick in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und zu würdigen.

Damit ist gemeint, dass jede Begegnung, jedes Erlebnis ein besonderer Schatz ist, etwas, das sich nie wieder in gleicher Weise wiederholen wird. Lassen wir dieses Erlebnis verstreichen, ohne es zu geniessen, wird die Gelegenheit dazu also für immer verloren sein.
–  Francesc Miralles und Héctor García

Dieser Gedanke begleitete mich, hallte in mir nach. Irgendwann – vielleicht auf halber Strecke – hatte ich das Bedürfnis, das Hörbuch zu pausieren. Ich nahm die Kopfhörer aus den Ohren und liess die Geräusche des Waldes an mein Gehör: das Knirschen des Bodens unter meinen Füssen, das leise Rascheln im Unterholz, Vogelstimmen..

Wald

Foto: Jürg Bolliger

Keine Minute später kam ich an eine Weggabelung. Von links näherte sich ein zweiter Weg, der sich mit meinem vereinte. Und auf diesem kam – fast wie bestellt – ein Mann in meinem Alter. Wir gingen exakt gleich schnell und so, dass wir plötzlich Seite an Seite gingen - ohne es zu planen, ohne Absprache. Wir fanden das beide witzig. Was für ein Zufall! Nebeneinander hergehend kamen wir ins Gespräch, ganz leicht und ungezwungen, als ob es vorgesehen gewesen wäre. Etwa 500 Meter lang dauerte unser gemeinsamer Weg – dann trennten sich unsere Pfade wieder, jeder zog weiter in seine Richtung.

Eine einmalige Begegnung. Nicht reproduzierbar. Nicht planbar. Nicht wiederholbar. Ichi-go ichi-e. Ein Moment, den ich erleben durfte, weil ich präsent war – innerlich wie äusserlich.

In der Sprache der Transaktionsanalyse war das ein Moment der Autonomie:
Ein Augenblick voller Bewusstheit - weil ich mit meinen Sinnen wahrnahm, was mich umgab, ohne Filter, voller Spontaneität – weil ich dem Impuls folgte und voller Intimität – weil in dieser kurzen Begegnung zwischen zwei Fremden etwas Echtes spürbar war.

Manche Schätze lassen sich nicht festhalten, aber sie hinterlassen Spuren – leise und kraftvoll zugleich.

Reizhunger stillen - der feine Tanz zwischen Mangel und Übermaß

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