Menschen können voneinander lernen. Im Idealfall tun sie das auch. Doch nicht immer. In diesem Blogartikel gehe ich der Frage nach, welche Voraussetzungen gegenseitiges Lernen begünstigen und welche nicht.
Lernen verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht primär im Aneignen von Wissen. Das ist zweifellos ein Teil davon, doch bei weitem nicht der einzige. Lernen umfasst auch die (Weiter-) Entwicklung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen, die Bezugsrahmenerweiterung (in Nicht-TA-Sprache Horizonterweiterung) und das Erkennen von Zusammenhängen.
Grundlage für meine Überlegungen zum gegenseitigen Lernen bilden die Grundeinstellungen und das Ok-Gitter.
Grundeinstellungen
Der „Ok“-Begriff hat in der Transaktionsanalyse eine wichtige Bedeutung. Entstanden ist er durch den Versuch Eric Bernes, psychologische Spiele zu klassifizieren.
Berne kommt zum Schluss, dass den Spielen Überzeugungen zugrunde liegen. Dabei geht es um die Einstellung, die man sich selbst und den anderen gegenüber einnimmt. Berne nennt Beispiele wie „Alle Männer sind böse“ oder „Ich bin niemals liebenswert“.
Die Vielfalt der möglichen Überzeugungen ist groß. Im Bestreben, eine einfach Klassifizierung für Spiele zu finden, fasst Berne die Grundüberzeugungen zusammen und reduziert sie auf die Frage, ob sich die betreffende Person selbst als „ok“ empfindet und ob sie ihr(e) Gegenüber als „ok“ sieht. Wem „ok“ nicht gefällt, kann dafür auch „in Ordnung“ verwenden.
Daraus ergeben sich die bekannten vier Grundeinstellungen:
- ich bin ok – du bist ok (+/+)
- ich bin ok – du bist nicht ok (+/-)
- ich bin nicht ok – du bist ok (-/+)
- ich bin nicht ok – du bist nicht ok (-/-)
Das Ok-Gitter
Franklin Ernst hat Bernes Idee weiterentwickelt und die Ok-Frage darauf bezogen, wie eine Begegnung von zwei Menschen ausgehen kann. Er verwendet dafür Begriffe, die er auf den Umgang mit anderen, mit einer Situation oder mit einem Problem bezieht.
- ich bin ok – du bist ok
➥ konstruktiv umgehen (get on with) - ich bin ok – du bist nicht ok
➥ loswerden, abschieben (get rid off) - ich bin nicht ok – du bist ok
➥ sich zurückziehen (get away from) - ich bin nicht ok – du bist nicht ok
➥ nirgends hinkommen (get nowhere)
Die Lerneinstellungen
Um aufzuzeigen, ob und wie Menschen gegenseitig voneinander lernen, gehe ich den umgekehrten Weg von Eric Berne. Das heißt, ich beziehe das „Ok“ auf ganz konkrete Grundüberzeugungen:
- Mein Gegenüber kann etwas von mir lernen.
Mein Gegenüber kann nichts von mir lernen. - Ich kann von meinem Gegenüber etwas lernen.
Ich kann von meinem Gegenüber nichts lernen.
Kombiniert gibt das dann die vier Lerneinstellungen:
- Wir können gegenseitig voneinander lernen. (+/+)
- Du kannst etwas von mir lernen, ich jedoch nichts von dir. (+/-)
- Du kannst nichts von mir lernen, ich jedoch etwas von dir. (-/+)
- Wir können nichts voneinander lernen. (-/-)
Ähnlich wie es Franklin Ernst im Ok-Gitter macht, können wir nun auch die Auswirkungen im Kontakt mit anderen Menschen beschreiben:
- Wir können gegenseitig voneinander lernen.
➥ sich weiterentwickeln - Du kannst etwas von mir lernen, ich jedoch nichts von dir.
➥ anderen eigene Meinungen, Ansichten, Erfahrungen aufzwingen - Du kannst nichts von mir lernen, ich jedoch etwas von dir.
➥ unreflektiert Meinungen, Ansichten, Erfahrungen übernehmen - Wir können nichts voneinander lernen.
➥ stehen bleiben
Die Formulierungen für die Auswirkungen sind von mir subjektiv gewählt und beschreiben nicht alle Aspekte. Vielleicht findest du für dich passendere Formulierungen. Falls ja, bin ich sehr daran interessiert (ich will von dir lernen 🙂).
Im Bildungskontext
Die Lerneinstellung hat einerseits Bedeutung in einer klassischen Lernsituation (Schule, Weiterbildung etc.). Zwar sind hier die Rollen klar definiert, doch auch Lehrende können von Lernenden lernen. Ich habe das in den vergangenen Jahren immer wieder erlebt und ganz viel von Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmern gelernt.
Nehmen alle Beteiligten die +/+ Lerneinstellung ein, ist die ideale Basis für gegenseitiges Lernen geschaffen. Und wer gelegentlich davon abweicht, kann jederzeit wieder zur +/+ Lerneinstellung zurückkehren.
Leider gibt es sie auch heute noch: die komplementären Lernsituationen. Der oder die Lehrende nimmt die +/- Lerneinstellung ein und der oder die Lernende die -/+ Lerneinstellung. Dadurch bestätigen die beiden Parteien ihre Einstellung gegenseitig und berauben sich gleichzeitig weiterer Möglichkeiten zu lernen und sich zu entwickeln.
Im Alltag
Die Lerneinstellungen sind nicht nur Bildungskontext relevant, sondern auch im täglichen Kontakt mit anderen Menschen – in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen oder wo auch immer du Menschen begegnest.
Andere Menschen können etwas von dir lernen. Und du von ihnen. Vielleicht sind es praktische Tätigkeiten oder wie jemand mit einer bestimmten Situation umgeht oder was auch immer.
Entscheidend ist auch hier die +/+ Lerneinstellung.
- Mit welcher Lerneinstellung begegnest du anderen Menschen?
- Glaubst du, dein Gegenüber kann etwas von dir lernen?
- Willst du, dass dein Gegenüber etwas von dir lernt?
- Glaubst du, du kannst von deinem Gegenüber lernen?
- Willst du etwas von deinem Gegenüber lernen?
Und noch etwas: Lernen besteht nicht nur aus den grossen Aha-Erlebnissen, sondern manchmal oder sogar oft aus kleinen Impulsen, die etwas in Bewegung bringen, dass auf den ersten Blick als unscheinbar wirken mag.